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Jubiläumsbuch der FCI
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Bernard DENIS, Frankreich
Ehemaliger Professor der Ecole nationale vétérinaire in Nantes,
Ehemaliges Mitglied der Wissenschaftlichen Kommission der FCI
Genetische Folgen
Die genetischen Folgen betreffen einerseits die Entwicklung einer genetischen Vielfalt sowie andererseits den Prozess der Aufspaltung in Rassen.
Der Domestizierungsprozess impliziert von Anfang an den Verlust von Genen. Dies liegt unter anderem daran, dass die Zahl der Menschen, die Rassen domestizierten, begrenzt und unter den Tieren selbst eine Auslese zu treffen war (selbst unter Rassen mit entsprechender Veranlagung dürfte es Tiere gegeben haben, die sich nicht in Gefangenschaft halten ließen). Außerdem änderten sich die Fortpflanzungsgewohnheiten, und der Mensch begann mit einer eigenen Auswahl. Doch wie bereits vorstehend dargelegt, wird die sichtbare genetische Vielfalt aufgrund der Anhäufung farbiger Mutanten größer. Weil mehr und mehr Menschen domestizieren, steigt auch der genetische Polymorphismus der domestizierten Rassen langfristig schrittweise wieder an.
Gleichzeitig kommt es im Laufe der Änderungen zu einer Neuverteilung der genetischen Vielfalt über eine erste Rassenbildung (d.h. der Entstehung großer Gruppen, die als primäre Rassen oder Vorfahren gelten). Wird an der traditionellen Theorie festgehalten, der zufolge es mehrere Domestizierungszentren gab, liegt es nahe, dass sich die Menschen auf eine in ihrer Region vorhandene Unterart des Wolfs konzentrierten.21 Über die Natur der primären Rassen, die nach und nach entstanden, wurden zahlreiche Überlegungen angestellt. Obwohl nur teilweise Übereinstimmungen bestehen, ist ihnen gemein, dass sie jeweils von nur vier oder fünf Gruppen ausgehen22. Bis zur Erreichung eines Konsens ist es sachdienlich, Hunderassen in „lupoid, brachoid, molossoid und grajoid“ einzuteilen. Obwohl diese Klassifizierung Ende des 19. Jahrhunderts begründet wurde, folgt sie doch einer Logik, wonach es vier „ursprüngliche Hundestämme“ gegeben haben soll. Diesen wäre gegebenenfalls noch ein fünfter Stamm hinzuzufügen, der den Dingo und andere primitive Hunde umfasste.23 Selbstverständlich ist nicht davon auszugehen, dass die morphologischen Unterschiede zwischen diesen Gruppen unmittelbar bei ihrer Entstehung leicht zu erkennen waren. Dies war erst aufgrund der späteren Auswahl – insbesondere in den beiden letzten Jahrhunderten – möglich. Auch wenn die Existenz dieser Gruppen, die als primäre Rassen aufzufassen sind, heutzutage auf der Hand liegt, ist zu betonen, dass die Molekulargenetik die morphologischen Ähnlichkeiten noch nicht bestätigen kann. Tatsächlich scheint es schwierig zu sein, Gruppen unterschiedlicher Rassen genetisch zu identifizieren24.
DIE ERSTEN VERWENDUNGSZWECKE DES HUNDES25
Abgesehen davon, dass Hundeskelette, wie vorstehend erwähnt, in menschlichen Gräbern gefunden wurden – was zumindest für eine gewisse Nähe zwischen Mensch und Hund spricht –, lässt sich diese Frage nur anhand von Hypothesen klären. Zwei Hypothesen werden besonders häufig ins Feld geführt: der Hund als Partner des Menschen bei der Jagd und der Hund als Familientier. Was das Tier für die heutigen Jäger-und-Sammler-Völker bedeutet, ist von äußerster Wichtigkeit, um die Geschehnisse zum Zeitpunkt der Domestizierung zu bewerten.
Die Verwendung des Hundes als Jagdhelfer des Menschen wird als Rechtfertigung für die Domestizierung angesehen. Grundlage ist die Komplementarität bei der Jagd: So treiben die Hunde die Beute, während der Mensch im Anschluss aus dem Hinterhalt zuschlägt. Waren Hund und Mensch am Anfang noch Rivalen, kam es allmählich zu einer Kollegialität, in deren Rahmen der Mensch den Hunden einen Teil der Jagdbeute überließ26. Auch wenn die Logik dieser Theorie nicht anzufechten ist, ist sie angesichts der sekundären Rolle, die Hunde in modernen Gemeinschaften bei der Jagd spielen, zu nuancieren. Bei den australischen Ureinwohnern (Aborigines) wird der Hund sogar von den Jagdgründen ferngehalten, während er die Jäger in anderen Gemeinschaften begleitet und das Abenteuer der Jagd teilt, ohne als Helfer im eigentlichen Sinne zu gelten. Möglicherweise spiegelt diese Beziehung zumindest ein gewisses Ausmaß von Domestizierung wieder. Bleibt die Frage, welche genaue Aufgabe der Hund bei der Jagd besaß.
„Geselligkeit“ – was gegenüber dem Begriff „Beziehung“ in dieser Frühzeit zu bevorzugen ist – ist der andere erste Verwendungszweck des Hundes. Zahlreiche moderne Gemeinschaften leben ständig mit Hunden zusammen, ohne ihnen besondere Beachtung zu schenken. Dennoch kommt es vereinzelt zu Beziehungen: So schafft das Stillen mit anschließender Domestizierung der Welpen privilegierte Beziehungen, was die Anwesenheit von Hundeskeletten in menschlichen Gräbern unabhängig von der bereits genannten rituellen Funktion erklären könnte. Bei den australischen Ureinwohnern wurde beobachtet, dass sich der Mensch in kalten Nächten bisweilen an den Hund schmiegt, um sich zu wärmen. Schlussendlich ist durchaus denkbar, dass die familiäre Konstellation einen ersten Rahmen für die Domestizierung des Hundes und eine der ersten Verwendungsformen darstellte.
Peinture rupestre, Pha Taem National Park, Thailande (2.000 à 1.000 AC)
21 : Nach MECH (zitiert von LIGNEREUX, siehe Anmerkung 8) wurden 45 Unterarten des Wolfs identifiziert. Davon wurde jedoch nur eine geringe Anzahl domestiziert, die darüber hinaus nur eine begrenzte Anzahl primärer Rassen hervorbrachten.
22 : Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen (ohne auf die Unterart des Wolfs als angeblichen Ursprung zu verweisen), dass FIENNES, R. und FIENNES, A. (The natural history of the Dog, Weidenfeld and Nicolson, London, 1968) von folgenden Gruppen ausgehen: „Dingo“ (zahlreiche primitive Hunde), „Nordische“ Gruppe (nordische Hunde, Hirtenhunde), „Greyhound“-Gruppe (Windhunde) und „Mastiff“-Gruppe (Molosser, Laufhunde, Vorstehhunde). Ebenso empfiehlt sich der Verweis auf CLUTTONBROCK, J., („Dog“, in MASON, I.L., Evolution of domesticated animals, Longman, London and New-York, 1984, 198-211), dessen Hypothesen stark abweichen. Die Molekulargenetik dürfte künftig weitere Erkenntnisse zutage fördern. Dessen ungeachtet ist sie derzeit nicht in der Lage, einzelne Rassen den Unterrassen des Wolfes zuzuordnen.
23 : Diese Einteilung geht auf den großen französischen Kynologen Pierre MÉGNIN zurück.
24 : LEROY, G., „Diversité et gestion génétique des races canines: le bilan de trois ans de travail de recherche“, Cynophilie française, n° 143, 2008, 16- 19. (Die in diesem Artikel dargelegten Informationen stammen von einer Doktorarbeit von AgroParisTech aus dem Jahre 2008).
25 : Die Informationen in diesem Kapitel stammen in erster Linie aus folgender Quelle: DIGARD, J.P., „Essai d’ethno-archéologie du chien“, op. cit. (siehe Anmerkung 16).
26 : Der „Happen“, der das Jagdreiten beendet, ist das Paradebeispiel für diese Praxis.